Dienstag, 31. Mai 2016

Polaroidgedanken #2

Hallo liebe Buchfreunde,

heute stelle ich euch die zweite Geschichte meiner Reihe "Polaroidgedanken" vor. Hierbei handelt es sich um eine Kurzgeschichte, die ich neulich geschrieben habe und die ich Euch nicht vorenthalten wollte. Sie trägt den Namen "The Girl next Door".


Ich bin der Meinung, dass jede Person, die wir im Laufe unseres Lebens treffen, eine Bedeutung hat. Zufälle gibt es nicht. Ich glaube nicht an Gott oder Karma, aber ich glaube an Schicksal. Und Schicksal war es mit Sicherheit, dass an meinem siebten Geburtstag in das Haus direkt neben uns, das zuvor Monate lang leer gestanden hatte, wieder eine Familie einzog.
Es war ein schöner Junitag, als der Umzugswagen vorfuhr. Ich war mit meinen Freunden im Garten, wo meine Eltern einen langen Tisch aufgebaut hatten. Wir spielten Topfschlagen und „Blinde Kuh“ und meine Eltern hatten mir ein Fußballtor geschenkt, das wir anschließend einweihten. Der große Wagen jedoch weckte unser aller Aufmerksamkeit.
Unser Grundstück war vom Nachbargrundstück durch einen Holzlattenzaun abgegrenzt, über den Wir zu dieser Zeit noch nicht sehen konnten. Als meine Eltern jedoch einmal nach drinnen gegangen waren, nutzten wir Jungen die Zeit, um gegenseitig auf die Schultern der anderen zu klettern und über jenen Zaun zu spähen.
Die Familie hat eine Tochter in meinem Alter, die so wie ich ein Einzelkind ist. Da wir beiden die einzigen Kinder in der Straße sind, hätten wir eigentlich schnell Freunde werden müssen, doch dem war nicht so. Lange Zeit hatte ich nicht einmal ihren Namen gekannt, bis ich einmal hörte, wie sie von ihrer Mutter „Stella“ gerufen wurde.
Obwohl ich in den nächsten Tagen nach dem Einzug regelmäßig mit meinem besten Freund Noah draußen auf der Straße auf einem alten Skateboard gesessen und gehofft hatte, dass Stella sich eines Tages zu uns setzen würde, ließ sie sich nicht bei uns blicken. Was sie tat, das wusste ich nicht, doch es dauerte nicht lange, bis ich sie regelmäßig mit zwei Mädchen aus dem Dorf sah. Von da an schrumpfte langsam meine Hoffnung, mich mit ihr anzufreunden, bis wir im September auf die gleiche Schule kamen.
Noah reißt mich aus meinen Gedanken, als er neben mir den Spind zuschlägt. Seine Bücher hat er unter dem Arm, ich stehe noch immer an meinem Schrank und  starre abwesend hinein. Mir ist entfallen, was ich tun wollte und welche Bücher ich jetzt brauche, doch Noah hilft mir. Er reicht mir mein Mathebuch und schließt dann den Spind ab. Wissend lächelnd klopft er mir auf die Schulter und schiebt mich den Gang hinab.
„Wer zaubert dir ein Lächeln ins Gesicht?“, fragt er mich dann, während wir gemeinsam auf unseren Klassenraum zusteuern.
„Als wüsstest du das nicht“, seufze ich.
Genauso wie ich hat Noah es nie gewagt, Stella anzusprechen. Anfänglich interessierten wir uns auch nicht sonderlich für sie. Sie war ein Mädchen und spielte mit ihren Freunden im angrenzenden Garten, während wir Jungs bei mir zu Hause Fußball spielten.
Noah klopfte mir erneut auf die Schulter und wir betreten gemeinsam unser Klassenzimmer. Wir sind spät dran, doch wir schaffen es, vor unserem Lehrer durch die Tür zu schlüpfen.
Ich lasse meine Tasche auf meinem Platz in der ersten Reihe nieder und Noah gesellt sich zu mir.
Stella war nie mit mir in einer Klasse gewesen. Wir waren viele Kinder in meinem Jahrgang und selbst, als wir auf die High School kamen, schaffte ich es nie, einen Kurs so zu belegen, dass ich ihn mit Stella teilte.
Mathematik zählte nie zu meinen Lieblingsfächern, obwohl ich nicht schlecht darin war. Generell war ich recht gut in der Schule, was verwunderlich war, da ich die meiste Zeit meinen Gedanken hinterher hing. Stella war allgegenwärtig und während Noah und meine Klassenkameraden sich mit Algebra, Chemie und Englisch beschäftigten, dachte ich an sie.
Als sie das erste Mal aus dem Auto ihrer Eltern stieg, trug sie ihre langen, blonden Haare offen. Sie hatte hellblaue Augen und ihre gebräunten Beine steckten in kurzen Shorts. Sie trug ein weißes, ärmelloses Oberteil und eine Kappe, die sie falsch herum aufgesetzt hatte.
Die Kappe trug sie den gesamten Sommer, immer wieder. Bald merkte ich, dass ihre Haare meist zu zwei Zöpfen geflochten waren, was ich traurig fand, da ich ihre Haare offen viel lieber mochte. Doch es sollte noch eine Weile lang dauern, bis Stella sich veränderte.
An dem Tag, an dem wir gemeinsam in der Turnhalle unserer Schule saßen und auf unsere Einschulung warteten, saß sie nur zwei Plätze von mir entfernt. Sie trug ein blaues Kleid und ihre Haare offen, was mich freute, denn den ganzen Sommer hatte ich sie nur ein, zwei Mal ohne die Zöpfe gesehen. Als wir in unsere Klassen eingeteilt wurden, hoffte ich lange, dass ihr Name direkt nach meinem aufgerufen wurde, doch dem war nicht so. Wir kamen in getrennte Klassen und ein ums andere Mal, wenn sie mit ihren Freundinnen an mir im Gang vorbei ging, überlegte ich, sie anzusprechen, doch sie war nie allein.
Selbst auf dem Heimweg kam es selten vor, dass sie ohne ihre Freundinnen nach Hause ging. Sie begleiteten sie bis an die Haustür und verabredeten sich für den Nachmittag. Ich sah ihnen zu und hoffte, dass eines Tages ihr Blick den meinen treffen würde. Doch dem war nie so.
Als die Schulglocke läutet, packten Noah und ich unsere Sachen zusammen und verließen den Raum.
Auf dem Gang begegne ich ihr. Stella hält ihre Schulbücher in der Hand, eine Tasche lässig über die Schulter geworfen. Sie trägt ihre Haare offen und sie fallen ihr bis weit über die Schulter. Von drei Freundinnen begleitet geht sie an mir und Noah vorbei, und Noah stößt mich an. Stella jedoch ist im Gespräch und ich wage nicht einmal ein leises „Hallo“.
Als Stella verschwunden ist, lacht Noah leise. Ich sehe ihr hinterher, bevor ich meine Schulbücher in meinem Schrank einschließe und auf meinen Stundenplan sehe. Es ist noch eine Schulstunde, dann ist der Unterricht beendet. Stella und ihre Freundinnen werden gemeinsam nach Hause gehen. Ich und Noah werden ihnen folgen, immer ein paar Schritte hinter ihnen. Wir werden heimlich über sie reden und Noah wird mich auslachen. Er bewundert sie, jeder Junge tut das. Einmal hatte ich beobachtet, wie ein kleiner Junge, drei oder vier Jahre jünger als wir, ihr heimlich seine Telefonnummer zusteckte. Selbst die kleinsten Jungen verfielen ihrem Charme und auch die Älteren waren nicht davor gefeit.
Stella hatte ihren ersten Freund mit vierzehn. Ich hatte sie einige Male zuvor gemeinsam gesehen. Er war Käpt’n der Footballmannschaft und zwei Jahre älter als sie. Ich hatte gesehen, wie sie in der Mittagspause gemeinsam gegessen hatten, wie sie gemeinsam lernten und miteinander auf dem Pausenhof lachten.
Bis dahin hatte ich nicht geglaubt, dass zwischen ihnen mehr als Freundschaft sein könnte. Dann jedoch war ich eines Tages vor dem Haus gesessen und er hatte an ihrer Tür geklingelt. Stella hatte ihm geöffnet, sie war ihm um den Hals gefallen und er hatte sie leicht hochgehoben. Sie waren einfach das perfekte Paar, das merkte ich sofort, ob ich es wollte, oder nicht. Den Stich im Herzen habe ich jedoch erst gespürt, als Stella ihm einen Kuss auf die Lippen drückte und von dem Moment an wusste ich, dass ich sie nicht nur bewunderte, sondern dass ich sie liebte.
Stella hatte sich verändert. Es war der Sommer, in dem wir beide dreizehn geworden waren. Der Winter war kalt gewesen und Stella war mit ihren Eltern im Skiurlaub gewesen. Ich hatte ihnen dabei zugesehen, wie sie gepackt hatten und dann waren sie lange Zeit weggewesen. Ich hatte sie vermisst, und als sie zurückgekommen war, hatte ich weitere Monate auf ihren Anblick verzichten müssen. Die Kälte hatte Stella dazu gebracht, dicke Winterkleidung zu tragen und die meiste Zeit im Haus zu verbringen. Von unserer Küche aus konnte ich in ihr Wohnzimmer spähen. Ich wollte sie nicht beobachten, doch ich konnte nicht anders. Ich sah, wie sie mit ihren Freundinnen vor dem Kamin saß, wie sie fern sah und wie sie las.
Als der Frühling kam, sah ich sie wieder von nahem. Jetzt trug Stella keine Kleidchen mehr,  sie trug kurze Hosen und enge Tops, hatte lange, glatte Beine und manchmal trug sie Schuhe mit einem kleinen Absatz. Sie benutzte Wimperntusche, Lipgloss und an ihrem Geburtstag das erste Mal Lidschatten.
Stella war zu einer Frau geworden und das war der Moment, in dem die Jungen begonnen, sie mit anderen Augen zu sehen – so wie ich es tat.
Hatte ich vorerst in ihr eine potentielle Spielkameradin gesehen, merkte ich jetzt, dass sie nicht nur geheimnisvoll und sportlich, sondern auch wunderschön und attraktiv war. Ich hatte schon zuvor gewusst, dass sie gerne turnte. Im Garten konnte ich sehen, dass sie Handstände und Purzelbäume schlug und bereits mit neun Jahren war sie in der Lage, den perfekten Spagat zu machen.
Mit vierzehn ging sie in die Cheerleader-Mannschaft unserer Schule. Ich besuchte ihretwegen jedes Footballspiel, doch die meiste Zeit war ich von ihren schlanken Beinen und ihrem muskulösen Bauch, der unter dem kurzen Top zu sehen war, abgelenkt. Nicht selten musste Noah mir am Ende erzählen, wie es ausgegangen war, damit ich am nächsten Tag in der Schule wenigstens etwas mitreden konnte.
Als wir die Middle School abschlossen, wurde Stella zur Ballkönigin gekrönt. Sie war in Begleitung ihres Freundes auf dem Abschlussball und die beiden stiegen gemeinsam auf die Bühne. Stella lachte, als sie die Krone überreicht bekam, sie war bescheiden und sagte ein paar Worte ins Mikro, dankte ihrer Familie und ihren Freunden und verließ dann unter Jubel wieder die Bühne, ihren Freund an der Hand. Die beiden waren so perfekt, dass ich einen Hass entwickelte, der mich erschreckte. Nicht auf Stella, niemals könnte ich sie hassen, aber auf ihren Freund.
„Willst du sie für immer anstarren?“, fragt Noah mich und ich schrecke dadurch aus meinen Gedanken. „Willst du deinen Kindern einmal erzählen, dass du es Jahre lang nicht gewagt hast, ihre Mutter anzusprechen?“
„Aus uns wird nie was werden“, entgegne ich energisch. „Stella ist …“
Mir fällt nichts ein. Jedenfalls ist sie anders als ich. Ich spiele nicht in ihrer Liga.
Ich habe ein paar gute Freunde, doch ich hänge fast eh nur mit Noah rum. Stella jedoch kennt jeden. Jeder kennt sie.
Als ich Noah das erste Mal davon erzählt hatte, wer mein Herz erobert hatte, hatte er mich mitleidig angesehen. Wir wussten beide, dass Stella unerreichbar war, zumal hatte sie zu der Zeit einen Freund gehabt.
„Sie sieht zwar toll aus, aber gut aussehende Mädchen sind immer dumm“, hatte Noah behauptet. „Sie sind oberflächlich und unfreundlich. Sie halten sich für etwas Besseres. Glaub mir, Stella ist keine Ausnahme.“
Wir wussten schon damals beide, dass das nicht stimmt. Stella ist nicht nur hübsch, sie ist beliebt, gut in der Schule, zuvorkommend und immer freundlich. Die Lehrer mögen sie, weil sie aufmerksam und höflich ist, die Mädchen sind neidisch auf sie, doch trotzdem gelingt es Stella, sie zu ihren Freundinnen zu machen. Sie scheint mit jeder Person auf dieser Schule eine Freundschaft zu führen, egal ob Mädchen oder Junge. Ich muss der einzige Mensch sein, der es nie in ihre Nähe schafft.
Ihren ersten Liebeskummer hatte Stella mit fünfzehn. Ihr Freund hatte sich von ihr getrennt und durch das Küchenfenster beobachtete ich, wie Stelle im Wohnzimmer saß und heulte, während ihre Eltern weg waren. Ihre Freundinnen versuchten, sie aufzuheitern, doch es dauerte lange, bis Stella wieder glücklich war.
In der Schule war sie weiterhin immer am lachen, aufgeschlossen und aufmerksam und eine Weile lang fühlte ich mich wie im siebten Himmel, weil ich das erste Mal das Gefühl hatte, mehr über sie zu wissen, als andere.
Ihr Ex-Freund hatte ein halbes Jahr darauf wieder eine neue Freundin, ein Mädchen, das nicht halb so hübsch und intelligent wie Stella war und ich fragte mich, wie er ein Mädchen wie Stella gegen seine Neue eintauschen konnte. Wenn ich es auch nur ein einziges Mal schaffen würde, mit Stella ein Gespräch zum Laufen zu bringen, ich würde nie wieder aufhören, zu reden. Das war vielleicht auch der Grund, weshalb es ganz gut ist, dass Stella und ich nie wirklich ein Wort wechseln.
Stella blieb Single. Unmengen von Jungen standen auf sie und sie bekam wahrscheinlich mehr Liebesbriefe, als alle anderen Mädchen auf dieser Schule zusammen. Dennoch ließ sie alle abblitzen. Ein weiterer Grund, weshalb ich es nicht wagte, sie einfach anzusprechen.
„Du wirst sie heute noch ansprechen, hörst du?“, fragt Noah mich, als wir uns auf den Weg in den Englischunterricht machen. „Du bist der coolste Typ, den ich kenne, sie kann dich gar nicht abweisen.“
Das stimmt nicht ganz. Stella hatte schon viel coolere Typen abgewiesen und ich wollte keine Abfuhr von ihr kassieren. Lieber schmachtete ich sie die nächsten Jahre aus der Ferne an.
Wir sind sechzehn und es steht fest, dass ich noch sicher zwei Jahre Zeit haben werde, um ihr verliebte Blicke zuzuwerfen. Da sie neben mir wohnt, werde ich vielleicht etwas Glück haben und ich werde sie noch ein paar Mal nach der Schule sehen. Was ich jedoch tun werde, wenn sie aufs College gehen und wegziehen wird, oder noch schlimmer – wenn sie eines Tages wieder einen Freund haben und zu ihm ziehen wird – das weiß ich nicht. Ich weiß aber, dass, solange Stella sich in meiner Nähe befindet, kein anderes Mädchen in meinem Herzen Platz haben wird.
„Ich kann sie nicht ansprechen, Noah, versteh das doch“, bitte ich ihn und sehe mich um. Ich hoffe, dass Stella nicht in der Nähe ist und unser Gespräch vielleicht mitbekommt. Würde sie wissen, dass es sich um sie handelt? Sie ist nicht so eingebildet, als dass sie davon ausgeht, dass alle Jungengespräche sich um sie drehen. Aber früher oder später wird so doch einen meiner Blicke gesehen und ihn gedeutet haben?
Eigentlich muss ich mich nicht schämen. Ich kenne keinen Jungen, der Stella von der Bettkante stoßen würde. Dennoch ist mir die Vorstelllung peinlich, dass Stella von meinen Gefühlen für sie erfahren könnte.
Die letzte Schulstunde vergeht quälend langsam. Die Schulglocke erlöst uns von unseren Qualen und ich bin als einer der ersten aus dem Klassenzimmer draußen. Ich weiß, dass Stella den Gang herunter gerade Mathematik hatte und nur kurz darauf öffnet sich auch die Tür zu ihrem Klassenzimmer. Stella ist eine der letzten, die das Klassenzimmer verlässt. Sie ist in Begleitung von drei Freundinnen und macht sich jetzt selbst auf den Weg zu ihrem Spind. Noah und ich folgen ihr.
Ich habe gar nicht gemerkt, wie gut sie heute wieder aussieht. Sie sieht immer fantastisch aus, aber heute trägt sie ein bauchfreies T-Shirt, das sich eng an ihren Oberkörper anschmiegt und eine enge Jeans die über den Knien auf jeder Seite einen Riss hat. Ihre Sneakers müssen neu sein. Ich glaube, langsam kenne ich jedes Teil in ihrem Kleiderschrank und die Schuhe habe ich noch nie gesehen.
Ihre Haare müssen sie im Unterricht gestört haben, denn sie hat sie jetzt zu einem Zopf zusammengebunden. Sie hat mir den Rücken zugedreht, sodass ich sie nur von hinten bewundern kann. Vor den Schränken bleiben die vier stehen. Zwei von ihnen verabschieden sich von den anderen und verschwinden auf die Toilette, Stella und ihre Freundin bleiben zu zweit zurück. Kurz darauf taucht ein Junge aus der Stufe über uns auf und begrüßt Stellas Freundin. Ich weiß, dass es ihr Freund ist, also ist es nicht verwunderlich, dass sie kurz darauf zusammen verschwinden.
Mein Herz setzt einen Moment aus. Stella ist allein und ich bin nur noch fünf Schritte von ihr entfernt.
Noah erfasst die Situation ebenfalls und klopft mir auf die Schulter.
„Du machst das schon“, flüstert er mir leise zu und verschwindet ebenfalls auf die Toilette. Wie ein Idiot stehe ich allein im Gang, inmitten der Schüler, die sich ihren Weg zum Ausgang bahnen. Ich setze mich langsam in Bewegung und bleibe zwei Schritte vor Stella stehen. Sie sieht mich nicht, hat den Blick auf ihren Spind gerichtet und kramt darin herum. Ich öffne den Mund, um etwas zu sagen, doch mir fällt nicht einmal ein guter Gruß ein. Ich könnte einfach „Hallo“ sagen. Ein „Hi“ würde es auch tun, falls ich mir etwas Zweisilbiges nicht zutraue. Es wäre ganz einfach.
Ich jedoch stehe da wie ein Idiot und sage nichts.
Stella schließt ihren Spind ab und dreht sich um. Einen Moment fällt ihr Blick auf mich, sie scheint mich zu erkennen. Jedenfalls, da bin ich mir sicher, kann sie mich zuordnen. Sie hat mich schließlich auch schon das ein oder andere Mal auf der Straße vor meinem Haus gesehen. Sie wirft mir ein freundliches Lächeln zu und schultert ihre Tasche. Wenn ich jetzt nichts sage, dann verschwindet sie und wer weiß, wann ich die nächste Gelegenheit bekomme. Ich hole Luft und öffne den Mund.
„Hey.“
Stella fährt herum. Hinter ihr steht ein kräftiger Typ mit dunklen Haaren, er hat seine Hände auf ihre Hüften gelegt und bei seinem Anblick legt sein ein Lächeln auf Stellas Lippen.
„Hey“, sagt auch sie und stellt sich auf die Zehenspitzen. Kurz darauf werde ich Zeuge des innigsten Kusses, den ich je gesehen habe. Als die beiden voneinander ablassen, lächelt Stella breit und in ihren Augen sehe ich, dass sie verliebt ist. Wirklich verliebt.
Sie nimmt die Hand ihres Freundes und  eine Sekunde dreht sie sich noch einmal leicht in meine Richtung, offenbar erstaunt darüber, dass ich noch immer da bin. Nochmal lächelt sie, dann gehen sie zusammen weg und ich bleibe zurück.
Das Stechen in meinem Herzen ist mir in der Zwischenzeit bekannt, doch dieses Mal ist es stärker. Mein Verstand weiß sofort, was Sache ist, nicht so wie bei Stellas erstem Freund. Er gibt mir keine Pause, er sagt mir sofort, dass ich sie nie erreichen werde, dass ich nicht gut genug bin.
Stella ist und bleibt außerhalb meiner Reichweite und ich sehe dem Pärchen zu, wie sie gemeinsam auf den Ausgang zusteuern.
Ich schlucke den Kloß im Hals herunter und schultere meine Tasche. Stellas letzte Beziehung hat ein halbes Jahr gehalten. Ich bin schon seit drei Jahren in sie verliebt, die letzten sechs Jahre davor schon wusste ich, dass das Schicksal etwas für uns vorgesehen hat. Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass ich noch eine Chance bekommen werde.
Vielleicht in einem halben Jahr, vielleicht erst in einem oder in drei. Aber sie wird nicht für immer mit diesem Typen zusammenbleiben.
Ich nehme meine Tasche. Noah kommt von der Toilette und fragt mich, wie es lief. Ich zucke die Schultern und sorge dafür, dass er nicht sieht, wie Stella und ihr Freund händchenhaltend vor dem Schulhof stehen, wie sie ihm einen Kuss gibt. Die beiden sind wirklich süß. Sie sind so verliebt. Ich kann warten, und das werde ich auch.

Ich warte lange. Zwei Jahre gehen vorbei und der Abschluss kommt. Stella wird Ballkönigin, was mich nicht wundert. Wieder erklimmt sie mit ihrem Freund die Stufen zur Bühne und sie sehen so glücklich aus, wie am Anfang.
Stella zieht weg, ich gehe aufs College, an Weihnachten besuchen wir beide unsere Familien und ich sehe durchs Küchenfenster, dass Stella ihren Freund dabei hat.
Wir schließen das College zur gleichen Zeit ab und feiern am selben Tag mit unserer Familie, nur einen Garten voneinander entfernt. Ihr Freund sitzt neben ihr, hält ihre Hand.
Ich warte.
Ich treffe Stella auf der Straße, wir nicken uns zu. An ihrer Hand sehe ich einen Ring.
Ich warte weiter.
Zwei Jahre darauf an Weihnachten sind sie nicht mehr alleine. Ich sehe aus dem Küchenfenster, wie Stella mit ihrer Familie Geschenke auspackt. Neben dem Sofa steht ein Kinderwagen und Stellas Mutter trägt ihr Enkelkind im Arm.
Ich beginne zu verstehen, dass meine Chance nicht kommen wird.
Doch ich warte.

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